Weihnachten in unserer Zeit by Maria Bellmann

Weihnachten in unserer Zeit by Maria Bellmann

Autor:Maria Bellmann [Bellmann, Maria]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-11-19T16:00:00+00:00


Vergessen

Gedämpftes Stimmengewirr untermalt vom Klappern zahlreicher Teller, Tassen und Kuchengabeln drangen aus dem Speisesaal zum Salon hinüber. Von hier aus hatte Herbert die Empfangshalle in seinem festen Blick, konnte sehen, wenn Christian mit den Jungs kam, um ihn für das Weihnachtsfest abzuholen. Die Tasche für die Feiertage stand gepackt neben seinem Rollstuhl. Herbert genoss die Ruhe dieses Raumes, der mit seinen schweren dunklen Ledermöbeln, der langwedeligen Kentiapalme am Fenster und seiner großzügigen Bücherwand eher an ein englisches Herrenzimmer erinnerte als an den Aufenthaltsraum eines Seniorenheimes. Er wandte seinen Rollstuhl zur Standuhr, sah auf das Ziffernblatt und positionierte sich wieder vor der geöffneten Salontür. Eine der Schwestern hastete an ihm vorbei, hinaus auf den Parkplatz. In der Hand hielt sie die Medikamente einer Bewohnerin, die diese am Kaffeetisch vergessen hatte und über die Feiertage bei ihrer Familie benötigte. Herbert erkannte, dass es Schwester Veronika war, eine der freundlichsten unter dem Pflegepersonal und immer mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Einen Moment müssen Sie sich schon noch gedulden, bis ihr Sohn kommt“, rief sie Herbert mit einem aufmunternden Blick zu, und er hob seinen Arm, winkte ihr etwas zitternd nach, ohne dass sie es wahrnehmen konnte. Weihnachten stellte für die Mitarbeiter des Heimes jedes Jahr eine besondere Herausforderung dar. Neben besuchenden und abholenden Angehörigen, kümmerten sie sich liebevoll um Bettlägerige und Demenzkranke, sprachen Alleingelassenen Mut zu und bemühten sich, ihre Hektik hinter berufsbedingter Fröhlichkeit zu verbergen. Schwester Veronika war jung und dazu noch hübsch, und Herbert fragte sich, was sie dazu bewogen haben mochte, diesen Beruf zu erlernen. Wahrscheinlich wäre sie heute viel lieber mit ihrem Freund oder ihren Eltern zu Hause, anstatt Weihnachtsdienst bei den Alten zu schieben.

Herbert war allein, das heißt – nicht ganz, denn vor dem großen Erkerfenster des Salons saß eine zierliche, fast unscheinbare Dame und schaute hinaus in den verschneiten Garten, als wäre sie gar nicht in diesem Raum, sondern weit, weit weg. Sie trug ein gemustertes Seidenkleid in gedämpften Farben und hatte ihr schütteres zartblondes Haar zu einer luftigen Wasserwelle legen lassen. Herbert kannte sie nicht, hatte sie wohl schon des Öfteren gesehen, aber nie ein Wort mit ihr gewechselt. Doch auch die alte Dame schien auf jemanden zu warten, denn auf ihrem Schoß hielt sie fest umklammert eine schwarze Lederhandtasche. Schwester Veronika kam zurück vom Parkplatz, und während sie sich am Türrahmen anlehnte und ihr rechtes Bein kurzweilig entlastete, steckte sie ihren Kopf in die Eingangstür des Salons. „Frau Reichle, geht es Ihnen gut?“ rief sie der Dame am Fenster zu. Erna Reichle drehte sich abrupt um, als wäre sie soeben aus ihren Gedanken in die Realität zurückgeholt worden.

„Ja, ja mir geht es gut. Wann wollte mein Sohn mich abholen?“

„Er kommt demnächst hat er gesagt“, und damit war Schwester Veronika, ein weiteres Lächeln auf ihrem Gesicht, auch schon wieder verschwunden. Herbert und die Dame am Fenster blieben zurück, hingen ihren Gedanken nach und schwiegen sich an.

„Sie warten wohl auch auf Ihre Familie?“ wandte sich Erna ihm schließlich zu.

„Ja, mein Sohn muss jeden Moment eintreffen, vier Uhr haben wir ausgemacht.



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